Der Sitzpositionsmann
Üblicherweise schickt mit diesem Einleitungssatz Wolf Haas seinen Brenner ins Geschehen. Diesmal passt er aber auch für den österreichischen Radsitzpositionsspezialisten Raimund Pucher aus Wildon bei Graz. Es ist nämlich wirklich wieder was passiert. Diesmal nicht nur bei mir, sondern auch bei „Feichti“, dem es sichtlich auch gereicht hat und seine Sitzposition trotz seiner Aussage „…im Prinzip is ja ned falsch…“ einer bemerkenswerten Korrektur unterzogen hat. Bei mir war es die Fortsetzung der gemeinsamen Reise mit Raimund, die im August 2009 begonnen hat. Ich hab gewußt, ich würde wiederkommen. Es passiert ja laufend was mit uns, nicht nur sportlich, sondern auch persönlich.
Ich habe unter dem Thema „Veränderungen“ bereits einmal einen „Bericht“ über Raimunds Arbeit geschrieben und wäre verleitet gewesen, zu schauen, was ich damals geschrieben habe, um Wiederholungen zu vermeiden. Was aber ein Unsinn ist. Wiederholungen sind ja gar nichts Schlechtes. Manchmal hat auch die Wiederholung ihren Sinn.
Der 1963 geborene gelernte Fahrradmechaniker, Ex-Rennfahrer und frühere Besitzer eines Radgeschäftes, der, wie er selbst sagt, damit aufgehört hat, um sich mehr auf seine Rolle als Betreuer konzentrieren zu können, ist die gefragteste Adresse in Österreich, wenn es um Sitzpositionsprobleme auf Rädern geht. Dabei spielt es keine Rolle, ob Zeitfahrrad, Renner oder Bike.
Ich habe mich gestern wieder gefragt, was das Geheimnis seines Erfolges ist. Bei Raimund erwartet Dich weder ein Superlabor mit abgefahrener Meßtechnik, noch ein klinisch-klimatisch durchgestylter Raum mit Macca-Postern an der Wand. Im Süden von Graz befindet sich die kleine, ruhige Gemeinde Wildon mit seinen ca 2.600 Einwohnern. Ganz in der Nähe befindet sich ca 60 km weiter bereits die südsteirische Weinstraße. Wenn man an der Zieladresse „Untere Au 10“ aus dem Auto aussteigt, atmet man bereits die entspannte Stimmung der Feriengegend ein und genießt das „Südlichderapenklima“. An der Adresse befindet sich ein Cocoon-Shop und im hinteren Teil des Shops, eigentlich das Lager, arbeitet Raimund inmitten von hunderten Schachteln. Der Raum ist riesig, er wird über ein großes Garagentor betreten. Inmitten dieses Lagerraumes, der sehr hell ist, befindet sich das Zentrum der Arbeit von Raimund, eine „Walze“. Um diese Walze herum liegen seine Utensilien: Diverse Innensechskantschlüssel, Maulschlüssel, drei verschieden lange Wasserwagen – und natürlich die legendären Pappendeckelreserven für die vom Meister persönlich gefertigten Einlagen. Um das Zentrum Walze herum sind verschiedene Sitzgelegenheiten aufgestellt. Raimund führt über alle seine Klienten Buch und verwahrt seine Unterlagen auf einer Art Kühltrühe, auf der auch zahlreiche Zeitschriften lagern, sowie ein kleiner Vorrat Mannerschnitten, der auf geheimnisvolle Weise weniger wird.
Raimund begrüßt uns und wir bekommen im Büro zuerst einen Espresso. Dann plaudern wir ein wenig, was zum Ritual gehört. Und darin liegt ein wesentlicher Teil des Geheimnisses: Zuhören! Es läutet kein Handy, kein Telefon, es liegt eine ruhige und entspannte Atmosphäre in der Luft, die fast ein wenig müde macht. Aber nicht negativ müde, einfach entspannt. Kein Streß, kein Lehrer –Schüler Verhältnis, das von vorneherein für Spannungen sorgen würde. Raimund fragt interessiert und das Interesse ist nicht vorgetäuscht. Es ist kein Small Talk, den er führt. Aber auch kein Dozieren.
Dann geht es zur Walze. Feichti kommt zuerst dran, ich bin ja nur zur Nachkontrolle. Was auch so geplant war, denn so habe ich Zeit, Fragen zu stellen und Fotos zu machen. Wirklich beschreiben kann man Raimunds Arbeit sowieso nicht. Ich meine, man kann natürlich schon drüber schreiben, nichts anderes manche auch ich gerade. Aber das Wesen der Arbeit muß man verstehen, erhören, erspüren. Nach einer Viertelstunde hat man sich an Raimunds „Steirisch“ gewöhnt. Dann hört man ihm zu. Ohne bedeutungsschwangeres Pathos erzählt Raimund so nebenbei, um was es – ihm – geht. Was wichtig ist, wer schon aller da war, was er bei wem gemacht hat. Er spricht von Körpern, die atmen müssen, von der Ruhe, die in den Oberkörper bei der Tretbewegung gehört, von Verspannungen im Schulterbereich, der sich auf die Hüfte negativ auswirken kann. Raimund dokumentiert seine Arbeit fotografisch und macht auch Videos von den verschiedenen Positionen.
Vor den Veränderungen wird jedes Rad genau vermessen und ein, ich nenne es Athletenstammblatt angelegt, um auch nach Jahren die Einstellungen nachverfolgen zu können. Die Walze wird auf ca 150 Watt eingestellt sein. Die Fahrt beginnt. Raimund läßt dich einige Minuten fahren und verwendet dabei die Kommandos 1, 2 oder 3 bzw „Zeitfahrlenker“. 1 bedeutet „aufrecht sitzen“, 3 bedeutet „Rennradposition“ und 2 liegt in der Mitte. Raimund macht sich ein Bild, oft ohne überhaupt Klagen gehört zu haben und lotet problematische Haltungen mit nahezu unglaublicher Treffsicherheit aus.
Wichtig ist ihm, daß man das Rad mit effizienter Ruhe bewegt. Er sagt, die Position eines reinen Strassenzeitfahrers ist nicht mit einer Langdistanztriathlonposition zu vergleichen. Leider aber berücksichtigen die Hersteller die unterschiedlichen Bedürfnisse zu wenig und richten, so Raimund, die Rahmengeometrien auf Strassenzeitfahrer aus. Das hat zur Folge, daß die Sitzrohrneigung bei ca 78 Grad stehenbleibt, was die sogenannte „American Position“, die aber einen Winkel von 80 Grad erfordert, nahezu unmöglich macht. Dazu kommen verschiedene Relationen von Arm- und Beinlängen, die zwar ganz gut mit Vorbauten und langen Sattelschlitten ausgeglichen werden können, aber nicht immer. Ist ein Fahrer im Falle von Feichti ca 2 Meter groß, ist man mit dem Vorschieben des Sattels rasch am Ende angelangt, sprich an der Stelle, wo die Schlittenkrümmung ein weiters Zurückschieben einfach nicht mehr erlaubt. Was aber, wenn die Sattelnase noch immer zu weit hinter dem Tretlager liegt? Raimund weiß fast immer guten Rat. Er kennt englische Sättel mit besonders langen Schlitten, ideale Aerolenker für Triathleten. Und er kennt die Geometrien fast aller gängigen Marken, kann also sagen, ob ein Langbeiner mit einem relativ kurzem Oberkörper sich auf seinem Wunschrad wohlfühlen wird. Das bedeutet, dass man Raimund auch vor dem Kauf seines (Wunsch)rades konsultieren sollte, er vermißt dich auf der „Italienerin“ und sucht geeignete Produkte.
Überhaupt sollte man in Raimund Puchers Welt von Vorstellungen Abschied nehmen, von Idealbildern, wie ein schnittiges Triathlonrad auszusehen hat: natürlich gigantische Überhöhung und vorne ein F-18 Kampfflugzeug. Ich habe Fahrer gesehen, die mich auf einem 1980er Jahr XY-Stahlrahmen, mit Rahmenschaltung, Laufräder mit 36 Speichen und Riemenpedalen überholt haben. Und es war nicht Eddy Merckx. Das Meiste dient heutzutage der Optik – und dem Händler. Das soll jetzt kein Plädoyer gegen den Lustgewinn beim Kaufen sein, das gehört auch zum Ritual, aber bitte mit etwas mehr Ironie und Abstand zum eigenen Ego. Wer wirklich was ändern will, dem ist die Optik drittrangig.
Feichti sieht auf seinem Rad schon ganz anders aus. Ich meine, es ist derselbe, mit dem ich hergefahren bin und trotzdem nicht wiederzuerkennen. Zum einen sorgt jetzt ein um 1 cm längerer 130er Vorbau und eine Verlegung der Extensions für mehr Luft im „Ansaugbereich“ und für eine „Verlängerung“ des Oberkörpers nach vorne. Zum anderen wurde die Sattelstütze um wenige mm herausgeschoben, gleichzeitig aber der Sattel nach vorne in Richtung Tretlager geschoben – halt bis zum Schlittenkrümmer. Da war Schluß, aber Raimund meinte, das würde jetzt einmal genügen. Feichtis Reise ist sicher noch nicht zu Ende!
Man kann Raimunds Arbeit nicht abschauen und imitieren. Es gibt bei ihm kein Pauschalrezept in Richtung: Sattel rein, Lenker raus oder so. Mag sein, daß diese Lösung oft richtig ist, aber auch dann nur in individuell richtiger Form. Was ich schon gelernt habe bei meinem zweiten Besuch bei Raimund ist so etwas wie ein Basisgefühl für Sitzhaltungen. Was mich aber nicht zu der aberwitzigen Annahme verleitet, ich könnte Beratungen durchführen. Bestenfalls kann ich beurteilen, ob sich der Fahrer noch auf österreichischem Staatsgebiet befindet.
Während der Fahrt zu Radhändler Fuchs, bei dem Raimund ein großes Sortiment an Vorbauten einkauft, sprechen wir weiter. Es ist eigentlich gar kein Interview im klassischen Sinn, das ich durchführe. Vielmehr lasse ich Raimund erzählen und höre zu. Er erzählt, was ihm wichtig ist. Was meine Fragen beantwortet, ohne daß ich sie zu stellen brauchte.
Auch meine Position verlagert sich weiter nach vorne. Ich spüre eine Erleichterung im Genick. Die aerodynamische Position hat nicht gelitten. Raimund meint, es werde sich bald wieder was ändern. Ich frage wann. Er sagt, wenn es soweit ist.
In der Zwischenzeit ist Oliver vom Marchtrenker TriTeam da. Er hat heute seinen ersten Termin mit Raimund. Sein Rad sieht schnittig aus. Was wird sich bei ihm ändern, fragen wir uns. In meinem Kopf entsteht plötzlich ein Bild, wie Olivers Rad nach der „Behandlung“ aussehen könnte. Ich bin schon sehr gespannt, werde es bald erfahren.
Müde fahren wir heim. Ein kalorisches Auftanken erfolgt beim „Schpoa“. Die Alpenüberquerung in nördlicher Richtung bringt uns verläßlich in Schlechtwetter zurück. Mein Kopf ist wieder voll mit neuen Eindrücken und Antworten. Ich hatte zwar nicht die Befürchtung, der zweite Besuch bei Raimund könnte sich in Routinen erschöpfen, aber daß es wieder so „neu“ sein würde, habe ich nicht geahnt. Die Reise geht weiter.
Quelle: Christian